Eröffnungsrede Bund Bildender Künstler 2011 · Susanne Jasper
Das tut mir jetzt wirklich Leid, ich hatte mir das alles ein bisschen anders vorgestellt. Ich hatte gedacht, ich sage ein paar Worte über Hermann Schulz und übergebe dann an ihn, an Hermann Schulz, einen unseren Gastgeber heute Abend. Aber ich fürchte, er kommt nicht mehr!? Wie Frau Laibach eben andeutete, ist Herr Schulz kurzfristig verhindert worden. Vielleicht erfahren wir im Laufe des Abends noch Näheres, man wird sehen. Tja, liebe Gäste, dann werden aus meinen paar Worten wohl ein paar Sätze mehr werden müssen und weil ich so etwas schon ahnte, habe ich mich glücklicherweise vorbereitet, so dass Ihnen und mir eine Improvisation erspart bleibt.
Erst mal möchte ich Sie auffordern: Fühlen Sie sich fast wie zu Hause. Machen Sie es sich gemütlich, sofern das irgendwie geht, legen Sie sich schon mal vor die Wanne oder legen Sie die Füße hoch und wem es zwischendurch langweilig werden sollte, der kann sich schon mal eines von Hermann Schulz` Tagebüchern vornehmen. Lesen unbedingt erlaubt! Schulz` Tagebücher sind keine Verschlusssache. Wer ist Hermann Schulz? Ein Typ, der schwer zu erreichen ist, das ist jedenfalls schon mal sicher. Aber wenn man, so wie Hermann Schulz seit Jahren ohne festen Wohnsitz ist, dann ist das mit der Festnetzerreichbarkeit eben auch eine schwierige Sache, wenn nicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Ana Laibach geht schon beim ersten Anruf in Mannheim ans Telefon. Sie weiß, wer Hermann Schulz ist beziehungsweise sie kennt ihn und erzählt bereitwillig über ihn. Denn zu wissen, wer Hermann Schulz ist – das würde Ana Laibach sich niemals anmaßen, denn wer wollte schon von sich behaupten, zu wissen, wer ein anderen Mensch ist? Wo doch die meisten nicht mal wissen, wer sie selbst sind. Vordergründig, klar, da kann man das runterrattern: männlich, verheiratet, Angestellter, zwei Kinder, Jahresgehalt 45 000, seit 10 Jahren Urlaub im Vinschgau. Bürgerliche Mittelklasseexistenz. Aber inwendig? Vielleicht eine verhinderte Rampensau oder ein einsamer Steppenwolf oder ein Muttermörder.
Wo wir wieder bei Hermann Schulz wären. Sein Großvater war ein Muttermörder, an sich die reinste weiße Weste der Mann, aber Muttermörder. Aber das führt jetzt vielleicht auch zu weit. Das kann man dann ja hernach noch nachlesen. Hermann Schulz ist neun Jahre älter als Ana Laibach, also 53, kommt aus Fallersleben. Ana Laibach kommt aus Braunschweig, in Wolfsburg haben sich die beiden kennen gelernt. Hier in Braunschweig zu sein, dass müsste für Hermann Schulz also ein Heimspiel sein, und deshalb hoffe ich auch, dass er vielleicht gleich noch zur Tür reinkommt und übernimmt. Schulz hat schon in etlichen Städten Asyl bekommen. So ein klammheimliches, unter der Decke gehaltenes Asyl. In unserem Telefonat frage ich Ana Laibach, ob Schulz in Braunschweig den korrekten bürokratischen Weg gewählt hat und Asylantrag gestellt hat. Sie habe ihn mehrmals darauf hingewiesen, sagt Laibach leicht verzweifelt, aber leider sei Schulz in diesen Dingen mitunter etwas nachlässig. Bürokratie lehnt er ab. Im BBK ist er also als Illegaler untergekommen. Ich denke, wir hoffen alle, dass hier ähnlich wie beim Kirchenasyl das Künstlerasyl zieht. In Marburg hat Schulz jedoch 2009 Asylantrag gestellt und tatsächlich bekommen. „Der Hermann wüsste jetzt, wie das damals hieß“, sagte Laibach am Telefon, legte den Hörer kurz weg und ich hörte Papiere rascheln. Von Hermann Schulz hörte ich – nichts. Dann wieder Laibach am Telefon: „Er hatte eine Aufenthaltsgestattung für ein paar Wochen.“
Die Kunstfigur Hermann Schulz hatte eine Aufenthaltsgestattung.
Das muss man erst mal sacken lassen. Eine richtige echte Aufenthaltsgestattung. Wo wir bei einem wesentlichen Punkt der Laibachschen Rauminstallation wären, die zunächst, auf den ersten, trügerischen Blick so heimelig und fast gemütlich anmutet: was ist wirklich, was ist fiktiv. Wenn eine nicht existente Person, unser Hermann Schulz nämlich, eine Aufenthaltsgenehmigung bekommt, und andere, die bei uns Zuflucht suchen, weil sie um Leib und Leben fürchten müssen, nicht – dann wirft das ein zwingendes, entlarvendes Schlaglicht auf unsere mitunter pervertierte Wirklichkeit, die sich zunehmend in fiktiven Parallelwelten im Computerspiel austobt, wo manchem die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit schon längst abhanden gekommen sind. Warum sich also nicht auf eine Kunstfigur einlassen? Womöglich hat die uns wirklichkeitsrelevanteres zu sagen, womöglich durchblickt sie die uns umnebelnden und von der Wirklichkeit ablenkenden Spielchen mehr als jeder vermeintliche superschlau vernetzte Durchblicker, der die Bodenhaftung im global play längst verloren hat.
Hermann Schulz war früher mal Wachmann, aber irgendwann war er das Bewachen Leid. Er wollte kein Dienstleister mehr sein. Eigentlich wollte Hermann Schulz nämlich immer Löwenbändiger sein, der Urgroßvater war Zirkusdirektor, und von daher muss das irgendwie herrühren. Von seinem Onkel bekam er als Kind zudem eine Blockflöte, mit der er die Mücken gewissermaßen gebändigt hat, also zum Einschlafen geflötet hat. Näheres lesen Sie bitte in den Tagebüchern nach, weil das sonst zu weit führen würde.
Hermann ließ also das Bewachen sein und begann zu schreiben, zu fotografieren, zu zeichnen.
Was ist von Ana Laibach, was von Hermann Schulz? Das sei eigentlich egal, so Laibach, so genau nehmen sie es damit nicht. Gucken wir also mal in den Raum nebenan, Titel „Fast wie zu Hause“. Auf großen Bahnen Industriepapier hat die Künstlerin mit Tinte all das aufgebracht, was so ein Zuhause ausmacht. Zimmer für Zimmer. Eine Wohnung in einem Raum. Herd und Klavier, Wanne und Radio, Kleiderschrank und Toilette. Küchenutensilien und Klobürste. Dieses Zuhause kennt keine festen Raumbegrenzungen, es kommt einem so vor, als sei ein Meteorit mitten hinein geknallt in ein Zuhause und nun puzzelt und purzelt es sich munter drunter und drüber wieder zusammen. Bei näherem Besehen fällt einem auf, dass diese Alltagsgegenstände aufgeladen sind mit Skurrilem, ein Sammelsurium der winzigsten Merkwürdigkeiten. Eine Suppe aus lauter kleinen Figürchen schwappt in der Wanne, überall kringelt und schlängelt sich etwas aus der Pflanzenwelt in dieses Zuhause. Aber nicht als artige Pflanze im Übertopf, sondern als Ungekanntes aus fremder Pflanzenwelt. Ein bisschen geht einem der Boden verloren in diesem Raum, der den Alltag, den Haushalt als Inbegriff der Privatheit, hier in die Öffentlichkeit bringt. Es geht um die persönliche Konnotation von Alltagsgegenständen, und ob man will oder nicht geht beim Betrachten gleich ein Kopfkino los und man befragt sich nach der eigenen Alltagswirklichkeit. Und auch hier wieder die Frage: wie selbstverständlich, sprich wie alltäglich und gar nicht mehr wahrgenommen ist unser Alltag, wie fiktiv ist unsere Wirklichkeit?
Die Ying-und-Yang-Ahnengalerie in der 1. Etage ist ebenfalls ganz in schwarz weiß gehalten. Die Reduzierung auf den starken Kontrast zwischen den extremen Nichtfarben und vor allem das virtuose Changieren von positiver und negativer Form legen die Reflektion über Anwesenheit und Abwesenheit nahe, über Realität und Fiktion – aber auch über Kunst und Comic. Die Ahnen, die sich hier mit ihren merkwürdig fluffigen Scherenschnitt-Händen befingern, erscheinen wie aufgeregte Gespenster im Disput. Da ist keine seriöse Ahnenforschung im Spiel und folglich keinerlei genealogische Aufschlüsse über Hermann Schulz. Man kann die Ahnen halt nur erahnen.
In diesem Raum sehen wir die Malerei von Schulz und Laibach. Auch da begegnen uns wieder so merkwürdige Zwitterwesen zwischen Kunst und Comic. Der Krüppel auf der Wolke zum Beispiel, ein Mensch-Käfer-Zwitter im herrlichsten romantischen Abendrot, der mit traurigen Augen in die Ferne starrt. Als hätte Caspar David Friedrich beim Malen seines Wanderers über dem Nebelmeer zu harten Stoff inhaliert. „Alte Bekannte“ sind Insekten-Monsterwesen, die in ihrer infantilen Grässlichkeit an Brachial-Karikaturisten wie Rattelschneck erinnern. Hermann Schulz also ein Mischwesen aus Kindsgemüt und Monsterfantasie?
Kennen Sie eigentlich Arnold Hau? Das ist auch so`n Typ wie Hermann Schulz, die reine Kunstfigur. Ende der 60er Jahre schon haben Gernhardt, Waechter und Bernstein von der Neuen Frankfurter Schule sich diesen Universalgelehrten, Philosophen, Literaten und Lyriker ausgedacht und eine fiktive Monografie über das Leben und unterschätzte Werk Haus vorgelegt. „Was ist der Mensch?“ diese recht breite angelegte Fragestellung hat Hau umgetrieben. Und so geht es unserem Schulz, glaube ich, auch. Kann auch falsch sein, denke ich noch vor meinem Telefonat mit Laibach, und dann sagt sie dieses: „Der Hermann und ich gehen auch viel spazieren, dann erzählt er so von seinen Ideen. Der ist auch so ein Denker. Er denkt viel über das Menschsein nach.“ Hau und Schulz – das sind Seelenverwandte, ich finde, die müssten sich unbedingt kennenlernen!
Was Schulz so denkt, erzählt er meistens nur seinem Hamster, heißt es, und so heißt eine Malarbeit auch „Wie erkläre ich es meinem Hamster“. Also muss man mutmaßen oder auf die Lektüre der Tagebücher hoffen, wenn man wissen will, wie Schulz tickt. Ich denke, Schulz denkt über Heimat oder Beheimatung nach und wo die zu finden ist. In einer gemütlichen Stube, die bei näherer Betrachtung zum Horrorkabinett mutiert, die sich in ihrer gepflegt-hübschen Hässlichkeit auswächst zum Alptraum, weil die Ahnen und der ganze andere Familienballast und Erwachsenwerdungsprozess immer wieder gallig mit den Krallen aus der Vergangenheit eingreift in dieses traute Heim. Oder doch eher unterwegs auf der Straße, unverwurzelt mit dem Handkarren von Ort zu Ort, weil Heimat nur noch als Sehnsuchtsort taugt, aber nicht mehr als Zimmer mit Platzdeckchen und Ahnengalerie an der Wand. Da ist allenfalls ein Fast-wie-zu-Hause noch drin.
Ganz ähnlich wie die drei von der Neuen Frankfurter Schule entwirft Laibach mit ihrer Kunstfigur Schulz eine ironisch unterfütterte Gegenwelt. Legendär damals in den 70ern die Hauschen Filme wie Milchkännchen und Fischstäbchen in der Antarktis, eine Abenteuerfilmparodie. Auf einer Tischdecke mit Popcornschnee agieren ein Milchkännchen und ein Fischstäbchen als Hauptdarsteller, die von Blechspielzeug bedroht werden. Mit diesen munteren Nonsensfilmchen nahmen die drei den aufgeblasen Filmbetrieb hops. Die Neue Frankfurter Schule war eben die, die mit viel intelligentem Nonsens die hyperintellektuelle Welterklärung der alten Frankfurter Schule – Adorno, Horkheimer und Co. – wohlwollend ad absurdum führte. Nach dem geflügelten Motto: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“
Die Gegenwelt Ana Laibachs ist mitunter auch zum Totlachen komisch. Und dann wieder totentraurig und beängstigend und irritierend in ihrer überbordenden Lust am Kuriosen, am Abwegigen, am Sperrigen. Ständig stolpert man über etwas, dass sich nicht in den allgemein verabredeten Kodex fügt, wie so ein Leben zu sein hat, zum Beispiel das von Hermann Schulz. Wie eine Biografie gemeinhin aussieht, glattgebügelt, wirklichkeitskonform und somit erträglich. Als wolle sie einen ständig auf dieses hinweisen: Sei doch nicht so blöd und glaube alles, was dir die Wirklichkeit auf dem Präsentierteller namens Leben darreicht. Guck doch mal genauer hin.
Gucken wir noch mal nach Hermann Schulz, der wohl nicht mehr zu erwarten ist. Heute jedenfalls nicht, schade.
Laibach hat über Schulz ein ganzes Füllhorn kruder Geschichten ausgeschüttet. Träume und Sehnsüchte, die machen eben Hermanns Leben aus. Die Mutter zum Beispiel, die hat er sich auch immer anders erträumt. Die Mutter wurde Salome gerufen, war aber eine geborene Johanna Stäufer. Salome deshalb, weil sie so schön wie Salome gewesen sein soll. Ob sie den Männern ähnlich wie die schöne Schleiertänzerin den Kopf verdreht hat, ist aus Schulz nicht rauszukriegen. Überliefert ist jedoch, dass die Mutter sich selbst enthauptete und den Kopf auf einem Kochtopfdeckel präsentierte.
„Das ist schon ein wahres Wunderstück“, sagt Laibach zu dieser Selbstenthauptung. Schulz kennt diese Szene glücklicherweise nur vom Bild. Das ist schon ein gehöriger Assoziationsübermut, oder!? Johanna Stäufer, Johannes der Täufer, dessen Kopf Salome der Legende nach auf dem Teller präsentierte. Stäufer, Täufer, Säufer – da gibt es noch einiges hernach beim Rundgang zu entdecken! Die Mutter hätte sich Hermann also weniger extrovertiert, weniger schön, eher bodenständig gewünscht. Eher lieb.
Mit Bollenhut wie ein artiges Schwarzwaldmädel, die die Schwarzwälderkirsch noch selber bäckt und ein Stückchen sahnige Heimat auftischt. Die übergroße, übermenschlich schöne Mutterfigur, die Hermann bis in die Träume peinigt – das ist auch so eine grausam reale Wirklichkeit, die durch diese überzeichnete, fiktive Geschichte nichts an ihrer Bedrohung für manches Erwachsenenleben verliert. Hermann wäre vielleicht gern wie sein Großvater gewesen, der mit der weißen Weste, der Muttermörder. Geworden ist er, sagt Laibach, „ein stigmatisierter Deutscher“. Er kann keine Wurzeln schlagen, sagt sie auch noch.
Schulz – im Herzen ein Muttermörder? Aber wir wollen Hermann nichts unterstellen, wir wollen ihn weiter Schulz nennen und nicht zu vertraulich werden. Zwar soll er sich hier fühlen wie Zuhause, fast, aber es ist eben doch nur ein übernommenes Zuhause. Und ist eigentlich nichts Kälter, Fremder, weniger ein Zuhause, als ein übernommenes Zuhause. Ein geborgtes Zuhause – das geht doch eigentlich gar nicht. Dann lieber mit dem Handkarren unterwegs.
So, ich hoffe, es hat sich keiner gelangweilt, wenn doch, haben Sie hoffentlich schon angefangen Schach zu spielen. Dieses Schachbrett ist ein wirkliches Schachbrett, aber eben kein vermeintlich korrektes 8 x 8-Brett, sondern ein Spielbrett mit nur 49 Feldern. Auch hier hat Laibach der Wirklichkeit wieder einen kleinen Tritt hin zum Absurden, Skurrilen, aus der Spur Gefallenen verpasst. Man kann aber damit spielen. Mädchenschach nennt Laibach das, wenn sie mit ihren Freundinnen darauf spielt. Weil Mädchen sich nicht trauen sich rauszuschmeißen, gibt es keine Gewinner und Verlierer. Und der König ist sowieso von Anbeginn tot. Es lebe also das Matriarchat. Oder? Wenn wir an die Mutter Salome denken . . . Lieber nicht. Es ist kein absolutistisches Spiel, Spieler müssen neue Strategien entwickeln. Wer gern spielen möchte, begebe sich schon mal in die Startposition.
Tja, schade, dass er bisher noch nicht gekommen ist. Er ist eben doch eher ein introvertierter Typ. Umso beeindruckender sei, so Laibach, dass er mit seinen Arbeiten nach draußen geht. Kann man mit Schulz eigentlich gut auskommen, wollte ich von Laibach noch wissen. Och doch, hat sie gesagt. Wir reden so über das Wetter miteinander. Und so. Deshalb verstehen wir uns wohl auch so gut. Bleibt mir, Ihnen, liebe Gäste von Hermann Schulz, zu wünschen, dass sie sich ebenso gut mit ihm verstehen. Ob er nun noch kommt. Oder nicht.
Susanne Jasper